Calluna
„Es gibt nichts Besseres fürs Raumklima“
Dirk Schulz ist der Pionier des Strohballenhausbaus in der Südheide. Seit 2015 hat der Bauunternehmer aus Wingen die Technik und die Arbeitsweise immer weiter verbessert. Sein von ihm entwickeltes Stecksystem für vorgefergte Wandmodule aus Holzrahmen, in die jeweils sechs Strohballen eingepresst werden, bekam sogar den „Segen“ des Deutschen Patent- und Markenamtes.
Im Sommer 2015 errichtete der Wittinger Bauunternehmer Dirk Schulz sein erstes Strohballenhaus. In der Straße mit dem geradezu paradiesisch klingenden Namen Himmelreich entstand eine barrierefreie Senioren-Wohnanlage mit vier Wohneinheiten, die sich dank der verwendeten Naturmaterialien durch ein gesundes Wohnklima auszeichnen. Damals war das Bauen mit Strohballen noch ziemlich exotisch. Bundesweit gebe es erst etwa 400 Strohballenhäuser, bedauerte Dirk Schulz damals im Gespräch mit Calluna. Seitdem sind sieben Jahre vergangen, und das Bauen mit Strohballen boomt. Je mehr Klimaschutz und Nachhaltigkeit an Bedeutung gewinnen, desto mehr Bauwillige entscheiden sich für ein Haus mit Wänden aus dem nachwachsenden Rohstoff, und der „Strohbau-Pionier“ Dirk Schulz kann sich durch die zahlreichen Anfragen und Aufträge, die er nicht nur aus der Südheide,
sondern auch aus der Region Lüneburg und vor allem auch aus dem Wendland erhält, bestätigt fühlen, die Zeichen der Zeit frühzeitig erkannt und seine Firma fit
für die Zukunft gemacht zu haben. Als wir ihn und seine Mitarbeiter im Sommer 2015 auf der Baustelle besuchten, sahen wir, wie ein Strohballen nach dem anderen in die Holzständerkonstruktion des Hauses eingefügt wurde. Damit die Ballen stramm und ritzenfrei in den Rahmen sitzen, mussten sie mit breiten Spanngurten zusammengepresst werden.
Das Hantieren mit den Ballen war ebenso wie das Spannen der Gurte mit Ratschen anstrengend und zeitraubend. Immerhin mussten rund 400 Ballen in die Wände eingepasst werden. Außerdem musste dabei das Wetter mitspielen. Bei Regen konnte nicht gearbeitet werden, denn sonst wäre das Stroh womöglich feucht geworden.
Stecksystem mit Nut und Feder
Dirk Schulz hat in den vergangenen sieben Jahren viel getüftelt und die Arbeitsabläufe und auch die Technik Schritt für Schritt verbessert. Herausgekommen ist ein ebenso einfaches wie geniales Stecksystem, das er sich beim Deutschen Patent- und Markenamt als Gebrauchsmuster – das ist der kostengünstigere „kleine Bruder“ des teuren Patents – schützen ließ. Der Clou: Die Wände werden aus einzelnen Elementen im Nutund- Feder-Prinzip zusammengesteckt, die zuvor im betriebseigenen Bauhof gefertigt worden sind. Ein solches Element besteht aus sechs lückenlos in einen raumhohen Holzrahmen eingesetzten Strohballen. Fensteröffnungen werden beim Konfektionieren ausgespart. …
Bildbeschreibung
Zuerst werden aus vorgeschnittenen Hölzern die Rahmen zusammengeschraubt. Danach werden die Strohballen in die Rahmen eingelegt und fest miteinander verpresst, um Kältebrücken in Form von Ritzen zu vermeiden. Dirk Schulz bedient die eigens für diesen Zweck von ihm entwickelte Hydraulikpresse. Anschließend bekommt das Stroh in den fertiggestellten Wandmodulen noch eine Rasur mit der Heckenschere, damit später keine Stoppeln aus der verputzten Wand gucken. Zum Schluss werden die fergen Wandelemente gebündelt auf Europaletten gestellt, um so später zur Baustelle transportiert zu werden. Dort können sie dank des Nut-und-Feder-Systems einfach zusammengesteckt werden.
… Da ein einzelnes Element lediglich rund 150 kg wiegt, ist auf der Baustelle kein großer Kran erforderlich, um die Wände aufzustellen. Die modulare Bauweise spart Zeit und Kosten, und sie ist wetterunabhängig. Während in den Wintermonaten auf den Baustellen die Arbeit ruht, kann in der geheizten Halle alles soweit vorproduziert werden, sodass im Frühling das Aufstellen der Strohballenhauses auf der Bodenplatte innerhalb von nur drei Tagen erfolgen kann. Auf der Baustelle müssen dann nur noch die „atmungsaktiven“ Wände verputzt werden – innen mit Lehm, außen mit drei Lagen Kalkputz – und die Fenster und Türen eingesetzt werden. Sobald der ebenfalls weitgehend vorgefertigte Dachstuhl aufgesetzt und das Dach gedeckt worden ist, kann der Innenausbau beginnen – im Idealfall bereits eine Woche nach Baubeginn. Ein individuell geplantes, ökologisch vorbildliches Strohballenhaus ist somit etwa genauso schnell aufgestellt wie ein Standard-Fertighaus aus dem Katalog. Zwei Strohballenhäuser in dem neuartigen Stecksystem hat Dirk Schulz bereits gebaut. Als wir ihn auf seinem Bauhof in Wittingen besuchen, pfeift draußen ein eiskalter Wind und peitscht heftigen Regen vor sich her. In der Halle ist es warm und trocken. An der hinteren
Giebelwand türmen sich Strohballen. Davor arbeiten vier Männer an verschiedenen Stationen. An der ersten Station werden die Rahmen aus vorgeschnittenen Kanthölzern
und Grobspanplatten (OSB) zusammengesetzt. Ist der Rahmen fertig, wird er auf seinem Rollwagen zur Station nebenan geschoben. Hier sollen die sechs Strohballen nacheinander paarweise eingelegt werden. Aber sie passen nicht in den offensichtlich etwas zu kleinen Rahmen. Hat sich da etwa jemand beim Holzzuschnitt vermessen? Keinesfalls! Für die optimale Wärmedämmung ist es wichtig, dass die Strohballen absolut fest im Rahmen sitzen. Jede noch so kleine Ritze wäre eine unerwünschte Kältebrücke, und die gilt es zu vermeiden. Also werden die Strohballen regelrecht in den Rahmen gepresst. Das geschieht allerdings nicht mehr mit Spanngurten in mühseliger Handarbeit, sondern auf Knopfdruck mit einem eigens für diesen Einsatzzweck konstruierten Hydraulikschieber.
Trockenrasur mit der Heckenschere
Ist das erledigt, kommt jedes Element in den „Frisiersalon“. Das Stroh muss nämlich noch „rasiert“ werden, damit es eine ebene Fläche bildet und später nicht einzelne Halme aus dem Putz gucken. Bei der Trockenrasur dient eine elektrische Heckenschere als XXLRasierapparat. Nach dieser Prozedur bekommen die entstoppelten Wandelemente noch jeweils zwei reißfeste Bänder um den Bauch gebunden. Diese sollen verhindern, dass sich der Holzrahmen unter dem Druck der gepressten Ballen in seinem Inneren tonnenförmig wölbt. Zum Schluss werden die kompakten Wandelemente gebündelt und auf Paletten abgelegt, die dann später zur aktuellen Baustelle transportiert werden. Diese liegt
gleich um die Ecke. An der Knesebecker Straße hat Dirk Schulz ein altes, marodes und einsturzgefährdetes Haus abgerissen und baut nun auf dem frei gewordenen Eckgrundstück
ein rollstuhlgerechtes Strohballenhaus, in das Menschen mit eingeschränkter Bewegungsfähigkeit einziehen können. Das neue Strohballenhaus soll das barrierefreie Wohnraumangebot ergänzen, das Dirk Schulz 2015, nur einen Steinwurf weit entfernt, im Himmelreich geschaffen hat. Die Innenwände in dem Neubau an der Knesebecker
Straße werden übrigens Ressourcen schonend aus Mauersteinen erstellt, die als Restpartien von früheren Bauprojekten auf dem firmeneigenen Bauhof lagern. Bei Strohballenhäusern, die er im Auftrag privater Bauherren erstellt, will Dirk Schulz dagegen die Innenwände möglichst aus Lehmsteinen erstellen, die für ein optimales
Raumklima sorgen. Er hat schon ausgetüftelt, wie er mit Hilfe einer Form die Lehmsteine auf dem eigenen Bauhof selbst herstellen kann. Strohballen kommen für die Innenwände nicht in Frage. Eine Wandstärke von 45 cm (mit beidseitigem Putzauftrag) wäre dafür doch etwas zu mächtig und Platz raubend.
Recycling später problemlos möglich
Dirk Schulz hat den Ehrgeiz, nicht nur die Strohballen – diese lieferte ein Landwirt aus Wrestedt –, sondern möglichst auch alle weiteren Baustoffe aus der Region zu beziehen und dabei weitgehend auf Naturmaterialien zurückzugreifen. Im Hinblick auf die Zukunft ist es ihm darüber hinaus wichtig, dass die von ihm gebauten
Häuser aus leicht trennbaren, recycelbaren Materialien bestehen. Beim Abriss des alten Hauses an der Knesebecker Straße hat er erst wieder leidvoll feststellen müssen,
wie ärgerlich und teuer es ist, nicht sortenreinen Bauschutt entsorgen zu müssen. Besonders problematisch wird das Recycling, wenn unterschiedliche Baustoffe fest miteinander verklebt sind, wie es zum Beispiel bei Fassaden der Fall ist, die mit Hartschaumplatten gedämmt worden sind. Ein Strohballenhaus braucht keine zusätzliche Dämmung, denn das Stroh schützt im Winter perfekt vor Kälte und hält im Sommer die Hitze draußen. Musste Dirk Schulz vor sieben Jahren noch Skeptiker mit vielen guten Argumenten mühsam von den Vorzügen eines Strohballenhauses („Es gibt nichts Besseres für das Raumklima“) überzeugen, ist Stroh heutzutage als Baumaterial ebenso anerkannt wie Holz oder Lehm. Stroh sei ein zertifizierter Baustoff, der nach der offiziellen Strohbaurichtlinie zu verarbeiten ist, sagt Dirk Schulz. Alle, die dennoch Zweifel haben, verweist er auf die Internetseite
des Fachverbands Strohballenbau Deutschland e.V. (fasba.de), auf der alle Pluspunkte dieses nachwachsenden Rohstoffs aufgelistet sind.
Traditionelle Baustoffe der Lüneburger Heide
So neu und ungewöhnlich, wie manche Leute denken, ist das Bauen mit Stroh nicht. Besonders hier bei uns in der Südheide wurde traditionell mit Holz, Lehm und
Stroh gebaut. Das für die Lüneburger Heide so typische Niederdeutsche Hallenhaus in Zwei- oder Dreiständerbauweise bestand fast ausschließlich aus diesen traditionellen, regional verfügbaren Baustoffen, auf die in Anbetracht der Klimakrise nun wieder verstärkt zurückgegriffen wird.
Bildbeschreibung
Das in Wittingen an der Ecke Knesebecker Straße/Spörkenstraße entstehende Strohballenhaus soll behindertengerechtes Wohnen in zentraler
Lage ermöglichen. Das alte Haus, das dort stand, war einsturzgefährdet und musste abgerissen werden. Lediglich der Stalltrakt konnte
gerettet werden.
Rohstoff vom Feld für das Fertighaus der Zukunft
Baustellenbesuch in Wittngen: Im zweiten Teil unserer kleinen Serie über das Strohballenhaus im innovativen Stecksystem, das sich sein Erfinder Dirk Schulz beim Deutschen Patent- und Markenamt vor Ideenklau schützen ließ, erleben wir, wie die vorgefertigten Wandmodule aufgestellt und miteinander verbunden werden.
Dirk Schulz, Pionier des Strohballenhausbaus in der Südheide, setzt alle Hebel in Bewegung, und das ist keine Phrase, sondern tatsächlich so: Als ich über das Baugerüst ins gerade entstehende Obergeschoss des Hauses an der Ecke Knesebecker Straße/ Spörkenstraße in Wittingen klettere, betätigt der Bauunternehmer mit ideologiefreiem Anspruch, ökologisch
und nachhaltig zu bauen, gerade die Fernbedienung des Krans, an dem eines der Wandmodule schwebt, die im Winter in der Halle auf dem firmeneigenen Bauhof vorgefertigt worden sind. Die Module bestehen jeweils aus sechs Strohballen, die in einen Holzrahmen eingepresst worden sind. „Der Kran ist eigentlich überdimensioniert“, entschuldigt
sich Schulz. Da ein Wandmodul nur 150 Kilogramm wiege, wäre ein kleiner Dackdeckerkran ausreichend gewesen, um es von der Lkw-Ladefläche auf die Geschossdecke zu haben, aber offenbar aufgrund der guten Auftragslage bei den Dachdeckerfirmen war ein solcher Kran nicht zur Miete zu bekommen. „Deshalb haben wir hier nun unseren eigenen Baukran aufgestellt.“ Auf der Geschossdecke angekommen, werden die leichten Wandmodule mit einer Art XXL-Sackkarre an ihren künftigen Standort bewegt. Das Gefährt ist, ebenso
wie die im Frühlingsheft vorgestellte Hydraulik-Vorrichtung zum Einpressen der Strohmodule in die Holzrahmen, eine Eigenentwicklung von Dirk Schulz für diesen spzeiellen Einsatzzweck. Am Anfang stand eine Zeichnung. Danach habe er ein Modell aus Playmobil- Teilen gebaut und sei mit diesem zum Bauschlosser gegangen, der es ihm aus Stahlrohren zusammengeschweißt habe. Fotografieren darf ich es noch nicht. Erst müsse die Eintragung beim Deutschen Patent- und Markenamt erfolgt sein, sagt Schulz, der
verhindern möchte, dass andere Bauunternehmer sein Zeit, Kosten und Ressourcen sparendes Prinzip des Strohballenhausbaus mit vorgefertigten Wandmodulen, die im Nut- und Feder-Stecksstem zusammengefügt werden, klammheimlich kopieren. Man muss also kein Muskelprotz sein, um ein Wandmodul ohne Maschinenkraft zu bewegen. Dirk Schulz
macht es vor, lädt ein Modul auf und an anderer Stelle wieder ab, und das ist offensichtlich weniger anstrengend als eine Waschmaschine mit einer herkömmlichen Sackkarre zu bewegen. Beim Absetzen des Wandmoduls sorgt die Nut des Holzrahmens für eine passgenaue Platzierung auf dem Sockelkantholz. Nun muss es nur noch bündig an das
Nachbarelement geschoben werden, sodass Nut und Feder ineinandergreifen. Jetzt fehlen nur noch einige Holzschrauben, um das Element dauerhaft zu fixieren.
In den Ecken der Wände sorgen diagonal verlaufende Metallverbinder für zusätzliche Stabilität. Dank des ebenso simplen wie genialen Stecksystems ist eine tragende Wand innerhalb weniger Stunden aufgestellt. Nachdem auch das Obergeschoss steht, …
Bildbeschreibung
Im Obergeschoss seines Strohballenhauses in Wingen hat Bauunternehmer Dirk Schulz ein Wandmodul an den Baukran gehängt. Mit der
Fernbedienung bugsiert er es exakt an die Stelle, an der es in die Wand eingesetzt werden soll.
… beginnen die Arbeiten am Dachstuhl. Die Dacheindeckung erfolgt mit Profilblech. Dirk Schulz hat sich bewusst für ein recycelbares Material entschieden. Im nächsten Schritt werden die Wände verputzt – außen mit Kalk- und innen mit Lehmputz, sodass sie „atmungsaktiv“ bleiben, und die Geschossdecke erhält für eine optimale Trittschalldämmung einen schwimmenden Estrich. Und dann müssen auch noch die Fenster und Türen eingesetzt werden. Dirk Schulz will außerdem an den Außenwändern kleine Fenster einbauen, die den Blick auf den nachwachsenden Rohstoff aus heimischer Produktion im Inneren der Wände freigeben. Denn sind die Wände erst einmal verputzt, lässt sich nicht mehr erkennen, dass es sich um ein Strohballenhaus handelt. Beheizt werden soll das durch die Strohballen, die ein Landwirt aus Wrestedt lieferte, gut gedämmte Haus mit einer Deckenheizung in Verbindung mit einer Wärmepumpe. Ein Schornstein ist somit nicht erforderlich. Dirk Schulz hat dennoch einen eingebaut, sodass das Haus bei Bedarf zum Beispiel zusätzlich mit Kaminöfen ausgestattet werden kann. Nach diesem soll in Wittingen gleich noch ein weiteres Strohballenhaus in Modulbauweise entstehen. Baustelle Nummer drei befindet sich in Bösen bei Clenze im Landkreis Lüchow-Dannenberg, und Haus Nummer vier entsteht in Goslar. „Dort erhalten die Bauherren die Strohballen von einem Bio-Bauern aus der Nachbarschaft“, berichtet Schulz. Er prüfe gerade, ob sich in der Nähe der Baustelle eine Halle mieten oder ein großes Zelt aufstellen lasse. „Dann könnten wir die Wandelemente
dort direkt vor Ort fertigen.“ Noch ökologischer und nachhaltiger geht es kaum. Die steigende Zahl von Anfragen, die er erhält, ist für Dirk Schulz ein Beleg dafür, dass das Interesse an Strohballenhäusern, die bis vor einigen Jahren noch belächelt wurden, stetig wächst. Nicht nur ökologische Gründe und das nachweislich gute Wohnraumklima sprechen für das Strohballenhaus. Gerade vor dem Hintergrund steigender Rohstoffpreise einerseits und der Rohstoffknappheit andererseits gewinnt der regional erzeugte, stetig nachwachsende und daher ausreichend verfügbare Rohstoff Stroh zunehmend an Bedeutung.
Bildbeschreibung
Das Wandmodul wird im Nut-und-Feder-Stecksystem eingesetzt und mit dem Kantholz, das den Sockel bildet verschraubt. In kurzer Zeit ist auf diese Weise eine komplette Wand aufgestellt. Die Ecken werden mit Metall-Zugbändern verstärkt. Im Erdgeschoss hat Dirk Schulz, um Rohstoffe zu sparen, Restpartien von Mauersteinen aus seinem Lager verarbeitet. Die Strohballen, die mit einem hohen Dämmwert punkten, kommen nur in den Außenwänden zum Einsatz, für den Innenausbau wären sie überdimensioniert, würden hier zu viel Platz wegnehmen.
Wellness für die Wand
Baustellenbesuch: Im dritten Teil unserer kleinen Serie über das Strohballenhaus in Wittingen erleben wir, wie die Außenwände innen mit Lehm verputzt werden.
Es ist ein wenig wie bei der Feuerwehr, nur dass aus der Spritze am Ende des dicken Schlauches kein Wasser herausgeschossen kommt, sondern Lehm. Dieser haftet ausgesprochen gut auf dem mit der Heckenschere sauber rasierten Stroh, das die Oberfläche der mit Holz eingefassten und im Nut-und-Feder- Stecksystem miteinander verbundenen Wandmodule
bildet. Man sieht sofort: Lehm und Stroh, diese beiden traditionellen Baustoffe, sind perfekte Partner – gerade auch im modernen Hausbau, der ökologisch orientiert, Ressourcen sparend und nachhaltig sein soll. Stroh und Lehm haben beide die gleiche gute, „atmungsaktive“ Eigenschaft: Sie sind offenporig und in der Lage, Feuchtigkeit aufzunehmen und wieder abzugeben und so stets für ein gutes Raumklima zu sorgen. Wenn die „Schlammpackung“ aufgetragen wird, ist das nicht nur wie eine Wellness-Kur für die Wand, sondern es freut auch den Mann an der Spritze, denn mit Lehm zu arbeiten, ist weitaus angenehmer als mit Kalk und Zement, die beim Anrühren mit Wasser die Atmungsorgane reizen und die Haut verätzen können. Während im Obergeschoss der Lehm an die Wand gespritzt wird, steht Dirk Schulz, der Firmenchef, höchstpersönlich am Mischer draußen vor dem Haus und
sorgt für Nachschub. Dabei muss er darauf achten, dass das von ihm angerührte Lehm-Wasser-Gemisch die richtige Konsistenz hat, damit die Pumpe keine Probleme bekommt.
Mit Lehm werden die Wände lediglich auf der Innenseite verputzt. Außen hat das Haus einen wetterfesten und dennoch „atmungsaktiven“ Kalkputz erhalten.
Bildbeschreibung
Wenn der Chef unten nicht schnell genug schaufelt, kommt oben zu wenig Lehm aus der Spritzpistole. Dirk Schulz (mit zum Strohballenhaus passendem Strohhut) und sein Mitarbeiter am Mischer müssen zwar ordentlich schutten, aber mit Lehm arbeiten sie viel lieber als mit staubigem und ätzendem Zement. Der Kollegean der Spritzpistole muss sich weniger anstrengen, macht dafür aber einen Job, der volle Konzentration erfordert. Die Wand im Hintergrund ist bereits einmal komplett grob verputzt. Flächen, die beim Putzen ausgespart werden sollten, wurden vorher mit Grobspanplatten abgedeckt.
Große Fenster für Ausblicke, kleine Fenster für kleine Einblicke
Im nun fertiggestellten Strohballenhaus, errichtet in innovativer Modulbauweise, dürfen die Wände zeigen, was in ihnen steckt: der goldgelbe, nachwachsende Baustoff vom Getreidefeld, der im Verbund mit Lehmputz für ein stets optimales Raumklima sorgt.
Ein letzter Baustellenbesuch, bevor die Mieter einziehen. Ein ganzes Jahr lang haben wir das Bauvorhaben begleitet – vom Einpressen der Strohballen in die Holzrahmen über das Aufstellen der im Nut- und Feder-System vorgefertigten Wandmodule auf der Bodenplatte und der Zwischendecke bis hin zum Verputzen der Innenwände mit Lehm. Diese sind nun
mit weißer Lehmfarbe gestrichen, sodass die Räume jetzt viel heller und größer wirken. Noch haben die Handwerker im Haus zu tun, aber warum hängen denn da schon die ersten Bilder an den Wänden? Was von weitem aussieht, wie abstrakte Malerei im Rahmen, erweist sich bei näherer Betrachtung als Wandfenster. Gerahmte Glasscheiben erlauben einen Einblick in die Wand – aufs nackte Stroh. Keine moderne Kunst und doch durchaus dekorativ. So können die Mieter ungläubigen Gästen später ganz einfach beweisen, dass sie tatsächlich in einem Strohballenhaus wohnen. Denn wenn erst einmal das Transparent am Bauzaun entfernt ist, weist von außen nichts mehr darauf hin, dass die Wände dieses
Haus an der Ecke Spörkenstraße / Knesebecker Straße in Wittingen aus dem nachwachsenden Rohstoff vom Getreidefeld bestehen. Beim Rundgang durch die Räume zeigt sich bis ins Detail der Anspruch des Bauherrn Dirk Schulz, so ökologisch und nachhaltig wie möglich zu bauen. Als Fußbodenbelag hat er rotes Linoleum gewählt. In den Bädern sind die Wände, die mit Wasser in Kontakt kommen, nicht, wie sonst üblich, gefliest, sondern ebenfalls mit Linoleum verkleidet. Für die Produktion des aus Naturmaterialien bestehenden Linoleums werde viel weniger Energie benötigt als beim Brennen von Fliesen, erläutert Dirk Schulz. Und da auch Tondachsteine mit hohem Energieeinsatz gebrannt werden, entschied er sich für Trapezblech als Dacheindeckung und wählte dabei die Blechstärke so, dass das Dach die geplante Photovoltaikanlage tragen kann. Beheizt wird das behindertenfreundlich gebaute Haus mit einer Luft-Wasser-Wärmepumpe, die im ehemaligen Stalltrakt Platz fand, der beim Abriss des maroden, einsturzgefährdeten Kleinbauernhauses auf dem Grundstück stehenbleiben konnte. Das von der Wärmpumpe aufgeheizte Wasser fließt durch Röhren, die in Hohlsteinen unter den Zimmerdecken verlaufen. Die Strahlungswärme aus der Decke erwärmt das Linoleum so, dass man glaubt, es handele sich um eine Fußbodenheizung. Mit dieser Art der Deckenheizung, die auch Klimaheizung genannt werde, lasse sich das Haus bei …
Bildbeschreibung
Bauherr Dirk Schulz mit den Plänen des Strohballenhauses in der oberen der beiden Wohnungen. Die Realisierung erfolgte mit dem Anspruch, möglichst ökologisch und nachhaltig zu bauen.
… Bedarf im Sommer auch effektiv kühlen, sagt Dirk Schulz. Allerdings werde die Kühlfunktion wohl nur bei Extremhitze benötigt werden, denn die mit Lehm verputzten
Strohballenwände würden schon allein für ein stets angenehmes Raumklima sorgen. Die Fensterbänke bestehen aus massivem, unbehandeltem Eichenholz und sind ebenso elegant abgerundet wir die Ecken der Fensteröffnungen. Sie harmonieren gut mit den ebenfalls massiven Zimmertüren und sind ebenso wie sie auf Langlebigkeit ausgelegt. Im ehemaligen
Stalltrakt wurden die alten Backsteinwände innen mit umweltfreundlichen Weichholzplatten isoliert. Dort befindet sich neben dem Haustechnikraum ein weiteres Bad, das den Nutzerinnen des Co-Working- Space, der neben den zwei Wohneinheiten in dem Haus entstand, zur Verfügung steht. Der Co-Working-Space war der Wunsch einiger selbstständiger oder freiberuflich tätiger Wittinger Frauen, die sich zu einem kleinen Netzwerk zusammengetan haben und sich künftig einen Büroraum und die Infrastruktur teilen wollen.
Geblieben ist auch die grüne Holztür im Stalltrakt, hinter der sich sich noch das alte Plumpsklo mit Abfluss in die ehemalige Jauchegrube befindet. „Das wird reaktiviert“, kündigt Dirk Schulz an. Allerdings will der den traditionellen „Donnerbalken“ durch eine moderne, wassersparende Trenntoilette ersetzen, in der feste und flüssige Exkremente separat voneinander gesammelt werden. Wenn der Hofplatz erst einmal angelegt und gestaltet ist – in der Mitte hat Dirk Schulz einen Schatten spendenden Hausbaum vorgesehen – hat die
Hausgemeinschaft, wenn sie sich dort draußen aufhält, somit gleich einen direkten Toilettenzugang. Während sich Dirk Schulz noch Gedanken über die naturnahe Begrünung der Außenanlagen macht, warten schon die nächsten ökologischen und nachhaltigen Bauprojekte auf ihn und sein Team: An anderer Stelle in der Stadt Wittingen, in Dannenberg an der Elbe, im Harz und in Friesland errichtet er mit seiner Firma weitere Strohballenhäuser in der von ihm entwickelten und vom Deutschen Patent- und Markenamt geschützten
Modulbauweise. Wo es möglich ist, werden die Strohballen aus regionaler Erzeugung in einer Halle oder Scheune direkt vor Ort in die vorgefertigten Holzrahmen mit Nut-und-Feder-Stecksystem gepresst. Bei dem großen Bauvorhaben im Harz, für das rund 500 Strohballen benötigt werden, findet auf Wunsch des dortigen Bauherrn sogar Bio-Stroh Verwendung, das in unmittelbarer Nähe der Baustelle „geerntet“ worden ist.
Bildbeschreibung
OBEN Linoleum, hergestellt aus natürlichen Rohstoffen, war einst weit verbreitet, wurde aber von PVC- und Teppichbodenbelag verdrängt. Als umweltfreundliche und nachhaltige Alternative zu zu den Kunststoff-Bodenbelägen, zu denen auch Laminat gehört, ist es nun wieder sehr gefragt – und in vielen Farben erhältlich. LINKS Der frei stehende Treppenaufgang auf der Hofseite dient zugleich als Balkon. Er wurde so geplant, dass er bei Bedarf problemlos mit einem Treppenlicht ausgestattet werden kann. RECHTS Die Straßenfront mit dem Eingang zum Co-Working- Space auf der linken und dem Eingang zur Erdgeschosswohnung auf der rechten Seite. UNTEN Im früheren Stalltrakt entstanden Funktionsräume. Hinter der grünen Tür befindet sich das Plumpsklo, das weiterhin in Betrieb bleibt. Der alte „Donnerbalken“ wird allerdings durch eine moderne, wassersparende Trenntoilette ersetzt.
